2011-06-10

Die Legenden des Dalai Lama



© Die Weltwoche Magazin, 04.03.2009, Ausgabe 10/09

Am 10. März jährt sich zum 50. Mal der Aufstand der Tibeter gegen China. Das geistige Oberhaupt, der Dalai Lama, wird im Westen verehrt wie ein Popstar. Seltsam. Der allseits verklärte Gottesstaat war ein korruptes Feudalsystem, das seine ärmlichen Untertanen knechtete.
Von David Signer


Anzeige

Kürzlich konnte der Dalai Lama im Rahmen seiner jüngsten Europa-Reise in Baden-Baden den Deutschen Medienpreis entgegennehmen, der bereits Prominenten wie Nelson Mandela, Bill Clinton und Bono verliehen wurde. Am 10. März vor fünfzig Jahren erhoben sich die Tibeter gegen die chinesische Fremdherrschaft. Und es ist siebzig Jahre her, dass aus einem kleinen Bauernjungen «Seine Heiligkeit» wurde.

Im Winter 1937/1938 machte sich ein Suchtrupp aus der tibetischen Hauptstadt Lhasa in die Provinz Amdo auf. Die Delegation hielt Ausschau nach der Wiedergeburt des vier Jahre zuvor verstorbenen 13. Dalai Lama. Man hatte dessen Leiche einbalsamiert und auf den Thron gesetzt, als sein Kopf plötzlich zur Seite kippte und sein Gesicht nach Nordosten zeigte. Das war den Zeichendeutern am Hof ein Hinweis darauf, dass sein Nachfolger in dieser Richtung gesucht werden musste, was dann auch vom Staatsorakel bestätigt wurde.

Kumbum und von dort zu einem bestimmten Haus mit einer Dachrinne aus ausgehöhlten Wacholderästen. Die Reisenden klopften an die Türe und baten um Unterkunft. Sie hielten Ausschau nach einem Knaben, der – ebenfalls gemäss einer Vision – etwa zweieinhalb Jahre alt sein sollte. Diesen Jungen fanden sie. Er sprach den Anführer des Trupps unaufgefordert mit «Sera Lama» an, in Anspielung auf sein Kloster. Auch seine abstehenden Ohren galten als Zeichen seiner Buddha-Ähnlichkeit.

Ein paar Tage später kehrten die Besucher zurück, diesmal in offizieller Mission. Sie legten dem Kleinen eine Reihe von Gegenständen vor, die dem 13. Dalai Lama gehört hatten, zusammen mit ähnlichen, die nicht von ihm stammten. Der Junge erkannte die richtigen Objekte, indem er jeweils rief: «Das gehört mir! Das gehört mir!»

Die Spezialisten testeten noch andere Kandidaten, aber der Fall war klar: Der Junge, der seltsamerweise einen weiblichen Namen trug – Lhamo Dhöndup, «wunscherfüllende Göttin» –, war der 14. Dalai Lama.

Alle lieben den inzwischen 73-jährigen Dalai Lama. Spätestens seit Martin Scorsese 1998 dessen Autobiografie unter dem Titel «Kundun» ins Kino brachte, kennt das Schwärmen keine Grenzen mehr. Von Richard Gere über Brad Pitt, von Patti Smith über Peter Maffay, von Dolly Buster bis Robbie Williams: Alle verehren das nonstop um die Welt jettende geistliche Oberhaupt der Tibeter. Als der Dalai Lama vor drei Jahren die Schweiz mit seiner Gegenwart beehrte, pilgerten während seiner achttägigen Visite insgesamt 30 000 Menschen ins Zürcher Hallenstadion, um ihn zu sehen. Ebenso eindeutig wie die Idealisierung des Dalai Lama, den auch Leute, die sonst jedem Heldenkult abhold sind, «Seine Heiligkeit» nennen, ist für die meisten der Fall Tibet: Man ist sich einig, dass das Bergland vor dem Einmarsch der Chinesen ein Paradies von meditierenden Mönchen und glücklichen Bauern war, inmitten einer herrlichen Bergkulisse – und es längst wieder wäre ohne die bösen Besatzer.

In Wirklichkeit war Tibet bis vor fünfzig Jahren eine klerikal-feudale Tyrannei, ist vieles am verbreiteten «Allgemeinwissen» über das Land Wunschdenken, gibt es durchaus auch dunkle Stellen in der Biografie des Dalai Lama und mischt sich eine Menge Obskures in die esoterische Lamaismus-Schwärmerei. Aber da es nur wenig Berichterstattung vor Ort gibt, ist es nicht einfach, im Dschungel von exiltibetischer und chinesischer Propaganda die Wahrheit ausfindig zu machen.

Tyrannei der Gottesfürchtigen

Nach seiner «Entdeckung» wurde der junge Dalai Lama im Kloster Kumbum untergebracht. In seiner Autobiografie «Das Buch der Freiheit» beschreibt er die Einsamkeit in seiner neuen Rolle: «Meistens war ich ziemlich unglücklich. Ich begriff nicht, was es bedeutet, Dalai Lama zu sein. Ich empfand mich als kleinen Jungen unter vielen. Es war nicht unüblich, dass Kinder schon ganz jung ins Kloster kamen, und ich wurde so wie all die anderen behandelt.»

Anderthalb Jahre später, im Sommer 1939, reiste er schliesslich mit einer grossen Karawane in die 3600 Meter hoch gelegene Hauptstadt Lhasa, wo er die traditionelle Sommerresidenz des Dalai Lama, den Norbulingka, bezog. Seine Eltern wohnten in der Nähe. Manchmal schlich er sich in ihr Haus, aber offiziell durfte er sie nicht mehr besuchen. Im Winter 1940, er war gerade vier Jahre alt, wurde er offiziell als geistliches Oberhaupt von Tibet eingesetzt und bestieg den juwelengeschmückten Löwenthron im Potala, dem berühmten Palast mit seinen mehr als tausend Prunkräumen. Sein neuer Mönchsname war Tenzin Gyatso, «Ozean der Weisheit».

Die folgenden Jahre verbrachte der Dalai Lama, isoliert von seiner Familie und ohne Kontakt zu Gleichaltrigen, vor allem mit der mönchischen Ausbildung. «Das Studium war sehr einseitig und in vielerlei Hinsicht für einen Staatsmann in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts denkbar ungeeignet», schreibt er in seiner Autobiografie. Während dieser Zeit lernte der Dalai Lama auch den österreichischen Bergsteiger und SS-Kämpfer Heinrich Harrer kennen, der Ende der vierziger Jahre in Lhasa lebte. 1952 veröffentlichte Harrer seine Erinnerungen «Sieben Jahre in Tibet», die seither vier Millionen Mal verkauft und in 48 Sprachen übersetzt wurden. Der Bestseller diente als Grundlage für den Film «Sieben Jahre in Tibet» mit Brad Pitt in der Hauptrolle. Das Buch war die Initialzündung für die jüngere westliche Tibet-Begeisterung.

Die weltferne Ruhe des Dalai Lama wurde jäh unterbrochen durch den Einmarsch der Chinesen in Osttibet. 1949 hatten die Kommunisten unter Mao Zedong die Macht übernommen und die Volksrepublik China ausgerufen. Wenige Monate später verkündete Radio Peking die Absicht, Tibet vom «britischen imperialistischen Joch» zu befreien und heim ins Mutterland zu holen. Im Oktober 1950 nahm die Volksbefreiungsarmee die Stadt Chamdo ein. Hals über Kopf übertrug die tibetische Nationalversammlung dem Dalai Lama im Alter von fünfzehn Jahren, drei Jahre früher als üblich, die Regierungsgeschäfte. Sein Hilfsappell an die Vereinten Nationen blieb, wegen des «ungeklärten Rechtsstatus Tibets», unerhört.

Tatsächlich war die völkerrechtliche Situation des Landes diffus. Vom 7. bis zum 10. Jahrhundert war Tibet ein mächtiges Reich, das auch Teile Indiens und Chinas beherrschte. Nach und nach schrumpfte dann sein Einfluss, und seit Beginn des 17. Jahrhunderts bestimmte Peking über das Land. 1904 fiel Tibet unter britische Herrschaft. Aber schon drei Jahre später erklärte ein Abkommen zwischen England, China und Russland Tibet zum chinesischen Protektorat. 1911 wurde der Kaiser in Peking gestürzt, seine Truppen verliessen Tibet, und der damalige Dalai Lama rief die Unabhängigkeit des Landes aus. Völkerrechtlich wurde die Deklaration nie wirksam, der Staat war politisch isoliert und wirtschaftlich kaum überlebensfähig.

Zwei Drittel Leibeigene

Das hing auch mit den anachronistischen, feudal-absolutistischen Verhältnissen zusammen. Das Tibet vor dem Einmarsch der Chinesen wird vom Dalai Lama und von seinen Fans gerne idealisiert. In Wirklichkeit herrschten dort gesellschaftliche Strukturen, die sich seit dem 10. Jahrhundert kaum verändert hatten. Zwei Drittel der Bevölkerung waren Leibeigene, das heisst auf Gedeih und Verderb vom Adel und von den Tausenden Klöstern abhängig. Durch die rigide Abschottung war das Land auch medizinisch, wissenschaftlich und technisch im Mittelalter stehengeblieben. Bildung und Gesundheitsversorgung existierten ausserhalb des Klerus schlichtweg nicht. Durch masslose Steuerpflichten ausgebeutet, lebten die meisten Tibeter in bitterer Armut. Wie in Indien gab es auch in Tibet eine rigide, kastenähnliche Hierarchie, die durch die buddhistische Karmalehre legitimiert wurde: Wenn einer wie ein Sklave leben musste, hatte das nichts mit Unterdrückung zu tun, sondern mit Schuld, die er in früheren Leben angehäuft hatte. Das Rechtswesen war hochkorrupt: Noch bis Mitte des 20. Jahrhunderts war es üblich, sich von der Strafverfolgung loszukaufen.

Wetterleuchten des Rückblicks

In der Autobiografie des Dalai Lama hingegen klingt es paradiesisch, wenn er sich ins Tibet seiner Jugend zurückversetzt: «Niemand muss sich allzu sehr ins Zeug legen, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Das Dasein ergibt sich wie von selbst, und alles läuft wunderbar.» Entsprechend unternahm er während seiner Regierung kaum Anstrengungen, das Land zu reformieren, ausser dass er die Vererbbarkeit von Steuerschulden aufhob. Dass politische Entscheidungen vor allem auf Orakel und Astrologie basieren, stellt für ihn, der sich sonst gerne demokratisch und fortschrittlich gibt, kein Problem dar. Zwar fordert er in seinem «Fünf-Punkte-Friedensplan» eine «Respektierung der demokratischen Freiheiten des tibetischen Volkes», aber selber hat er bis heute nicht einmal in den Exilgemeinden, geschweige denn innerhalb der Exilregierung den Versuch unternommen, sich demokratisch legitimieren zu lassen. Er gibt sich selbstverständlich als ganzheitliches Oberhaupt der Tibeter aus, obwohl er, streng genommen, nicht einmal als geistlicher Repräsentant für das gesamte Tibet sprechen kann. Er ist lediglich das Oberhaupt des Gelugpa-Ordens, der sogenannten Gelbmützen, dessen Führungsanspruch er seit Jahrzehnten systematisch durchzusetzen versucht. Diese Widersprüchlichkeit gilt auch für sein ökologisches Engagement. Er fordert zwar, Tibet in eine Art Naturreservat zu verwandeln, und macht sich bei jeder Gelegenheit für ein ökologisches Denken im Einklang mit der Mutter Natur stark. An seinem Sitz Dharamsala jedoch wird der Müll seit dem Beginn des Exils bis heute einfach auf eine grosse Müllhalde gekippt.

Angesichts der rückständigen Verhältnisse war es für China ein Leichtes, die Besetzung Tibets als Befreiung aus feudaler Stagnation und Repression darzustellen. Im Mai 1951 wurden die Gesandten der tibetischen Regierung in Peking mehr oder weniger genötigt, ein 17-Punkte-Abkommen zu unterschreiben, das einerseits die Integration Tibets in die Volksrepublik China fixierte, andererseits dem Land regionale Autonomie und Religionsfreiheit zusicherte. Das politische System sollte unverändert bleiben und Reformprozesse ohne chinesischen Druck durchgeführt werden. Sobald die tibetische Regierung einige Monate später dem Vertrag zugestimmt hatte, etablierte China eine massive Militärpräsenz in Lhasa. Im Gefolge von Landreformen – der Grundbesitz der Adelsfamilien und der Klöster sollte an bisherige Sklaven, Leibeigene und unfreie Bauern verteilt werden kam es im Laufe der fünfziger Jahre zu mehreren Aufständen der feudal-klerikalen Elite, bis die Situation 1959 in der Hauptstadt eskalierte. Am 17. März wurde der Norbulingka-Palast durch chinesische Truppen beschossen, der Dalai Lama floh nach Indien, und in Lhasa brachen Kämpfe aus. Am 21. März wurde die Erhebung blutig niedergeschlagen, nach exiltibetischen Angaben starben zehntausend Tibeter. Während der Dalai Lama und sein Gefolge im indischen Dharamsala Asyl fanden, wütete die chinesische Kulturrevolution auch in Tibet. Zwischen 1966 und 1976 wurden Tausende von Klöstern und Kulturdenkmälern zerstört. Die Schweiz war das erste europäische Land, das 1961 tibetische Flüchtlinge aufnahm und ihnen in Rikon Unterkunft und Arbeit bot. 1967 wurde das klösterliche Tibet-Institut eröffnet.

Die Informationen des Dalai Lama und der Tibet-Unterstützer-Szene sind, was die chinesische Besatzung angeht, nicht immer glaubwürdig. Meist wird verschwiegen, dass inzwischen etwa die Hälfte der Klöster wieder restauriert und in Betrieb genommen worden ist. Auch kann, zumindest seit Mitte der neunziger Jahre, von einem Verbot des Mönchswesens keine Rede sein. Wird der Dalai Lama darauf angesprochen, sagt er, die Klöster würden lediglich der Touristen wegen renoviert; es gehe den Chinesen also nicht darum, die traditionelle Kultur zu bewahren, sondern sie als exotische Kulisse wiederaufzubauen und sie dadurch erst recht dem Untergang zu weihen. Eine Einschränkung wurde allerdings – gegen den Willen des Dalai Lama zweifellos durchgesetzt: Es dürfen keine Kinder mehr in die Klöster aufgenommen werden. In seiner Autobiografie behauptet «Seine Heiligkeit» auch, infolge des Umsiedlungsprogramms übersteige der chinesische Anteil der Bevölkerung inzwischen denjenigen der Tibeter. Gemäss der umstrittenen Volkszählung im Jahr 2000 beträgt der Anteil der Chinesen im Autonomen Gebiet Tibet 6,1 Prozent. Am höchsten ist er gemäss dem Zensus in Lhasa, wo er 17 Prozent erreicht. Immer wieder kolportiert wird auch die Behauptung, 1,2 Millionen Tibeter seien Opfer des chinesischen Terrors geworden, also etwa ein Fünftel der Bevölkerung. Manchmal heisst es sogar in den offiziellen Verlautbarungen aus Dharamsala, dabei habe es sich allesamt um tibetische Häftlinge gehandelt, die Folter oder Hinrichtung zum Opfer gefallen seien, und oft ist dann von chinesischen KZs die Rede. Zweifellos ist China von rechtsstaatlichen Verhältnissen weit entfernt, aber der Vorwurf der systematischen, tausendfachen tödlichen Folter, wie dies das Stichwort «Konzentrationslager» nahelegt, ist kaum belegbar.

Esoterisches Hickhack

Ende der achtziger Jahre kam es erneut zu Unruhen in Tibet, und im Dezember 1989 erhielt der Dalai Lama den Friedensnobelpreis. Etwa ein Jahr vorher hatte er sich mit dem Japaner Shoko Asahara angefreundet, der in der Nähe von Tokio eine «spirituelle Gemeinschaft» mit mehreren tausend Mitgliedern unterhielt. Im Laufe des Jahres 1988 war Asahara laut Recherchen des Autors Colin Goldner wiederholt beim Dalai Lama in Dharamsala. Diese Gemeinschaft mit ihren laut dem Dalai Lama «schätzenswerten Zielen und Aktivitäten» war «Aum», eine der gefährlichsten und totalitärsten Sekten überhaupt, die im März 1995 einen Giftgasangriff in der Tokioter U-Bahn verübte. Jahrelang hatten die japanischen Autoritäten den grössenwahnsinnigen Guru gewähren lassen, allen Warnzeichen zum Trotz; nicht zuletzt wegen der schützenden Hand des Dalai Lama. Als dann nach der Sarin-Attacke die Zentren endlich durchsucht wurden, fand man einen Vorrat an Gift- und Kampfstoffen, mit dem man mehrere Millionen Menschen auf einen Schlag hätte töten können. Nicht mal zu einem Wort des Bedauerns konnte sich der Dalai Lama durchringen. Noch im Spätsommer 1995 verkündete er auf der Berliner Friedensuniversität, er sehe in Asahara einen «Freund, wenn auch nicht unbedingt einen vollkommenen».

Zweifel an der vielgerühmten Weisheit des Dalai Lama lässt auch die «Shugden-Affäre» aufkommen. Im Sommer 1996 verbot er seinen Leuten, auf Anraten des Staatsorakels, die Verehrung der Schutzgottheit Dorje Shugden (wörtlich: Donnerkeil-Phallusbrüller). Eine Reihe von Äbten und Mönchen lehnte sich gegen diesen Bann auf, man warf dem Dalai Lama Verletzung der Religionsfreiheit vor, der seinerseits mit einer systematischen Durchsuchung der Häuser und Klöster in den Exilgemeinden auf diese Unbotmässigkeit reagierte. Shugden-Statuen wurden zerstört und renitente Mönche verprügelt. Unterstützungskomitees behaupteten sogar, China und die Shugden-Bewegung steckten unter einer Decke. Das kuriose und autoritäre Verdikt führte zu einer Spaltung der Gläubigen, die in einem Mord gipfelte: Am 4. Februar 1997 wurden drei Mönche aus dem engsten Umkreis des Dalai Lama mit Messerstichen ermordet und verstümmelt von Shugden-Anhängern. Dabei ist es nicht so, dass der Dalai Lama in aufklärerischer Weise den Buddhismus von «Aberglauben» reinigen will. Der tibetische Buddhismus ist ganz besonders von Magie- und Dämonenvorstellungen geprägt. Von den barock-brutalen Jenseitsvorstellungen zeugt auch das «Tibetanische Totenbuch», das sich auch im Westen seit Jahrzehnten einer grossen Leserschaft erfreut. Der Dalai Lama steht ganz in dieser okkulten Tradition; weit entfernt davon, den Geisterglauben als Illusion zu entlarven, ist er überzeugt, dass Dorje Shugden gegen ihn persönlich Böses will.

Mit Eisenstangen bewaffnete Mönche

Die Unruhen im Vorfeld der Olympischen Spiele wurden in den westlichen Medien gemeinhin so dargestellt, dass sie ins Bild der «friedliebenden Tibeter» passten: Entweder ging die Gewalt angeblich nur von den Chinesen aus, oder dann wurde behauptet, die tibetischen Demonstranten hätten lediglich aus Notwehr gehandelt. Filmdokumente und Augenzeugenberichte belegen allerdings, wie mit Schlagstöcken und Eisenstangen bewaffnete Mönche am 11. März marodierend durch Lhasas Altstadt zogen. Busse und Autos wurden umgeworfen und angezündet, chinesische Häuser und Läden geplündert und in Brand gesteckt. Molotowcocktails flogen auch in Kindergärten, Schulen und Krankenhäuser. Der Dalai Lama behauptete später, die Mönche seien verkleidete chinesische Soldaten gewesen. Tibeter sind schliesslich per definitionem gewaltlos. Rund um die Welt kam es zu Solidaritätskundgebungen.

Die meisten Tibet-Schwärmer, und insbesondere die esoterisch Angehauchten, dürfte es überraschen, dass sie unwissentlich auch Gedankengut weitertragen, von dem einst viele deutsche Nazis begeistert waren, wie der Dalai-Lama-Kritiker Colin Goldner minutiös nachweist. Tibet übte schon früh eine Anziehungskraft auf rechtsextreme Okkultisten aus. 1939 besuchte eine Nazidelegation Tibet, den Dalai Lama und den damaligen Regenten. Angeführt wurde die Reisegruppe vom SS-Biologen Ernst Schäfer. Er suchte in Tibet nach Überresten eines ursprünglich nordisch-geistigen Adels. Die Forschertruppe stand unter der direkten Ägide von Reichsführer Heinrich Himmler, der von einer «okkulten Achse BerlinLhasa» träumte. Himmler war Anhänger der Theosophie, zu der eine Rassenlehre gehört, die gut in die Nazi-Ideologie passte. Ernst Schäfer schloss in Lhasa einen Freundschaftspakt mit Tibet und kam mit einem Schreiben für «König Hitler» zurück, in dem der tibetische Regent dem Führer viel Glück wünschte in seinem «Bemühen um ein Reich auf rassischer Grundlage».

Sicher kann man dem Dalai Lama nicht rechtsextremes Gedankengut unterstellen. Bestenfalls ist er etwas naiv und hat es verpasst, sich deutlicher von den dubiosen Tibetbewunderern zu distanzieren. Auch die Bücher «Seiner Heiligkeit» sind sicher nicht gefährlich. Sie sind allerdings auch kaum besonders geistreich oder tiefsinnig, sondern bestehen hauptsächlich aus Binsenweisheiten im Stil von: «Der Schlüssel zum wahren Glück ist der innere Frieden, den man erlangt, indem man seine Liebesfähigkeit, sein Mitgefühl und seine Hinwendung zum Mitmenschen entwickelt und Zorn, Egoismus sowie Habgier bekämpft.»

Warum ist der Dalai Lama insbesondere bei wohlhabenden Westlern so beliebt? Abgesehen vom Charisma, das er zweifellos ausstrahlt, und von einer perfekt organisierten, internationalen PR-Maschinerie, bietet er, im Gegensatz zu andern Religionen mit ihrem verbindlichen Verhaltenskodex, Gratis-Spiritualität. In einem Leben, das geprägt ist von Rationalität, Skepsis und Geld, wird unsere Sehnsucht nach etwas Höherem befriedigt, ohne dass das irgendwelche konkreten Konsequenzen nach sich zöge. Wer mit einem «Free Tibet»-Sticker herumgeht, darf politisches Engagement für sich beanspruchen, ohne dass er sich wirklich in die Niederungen der Politik begeben muss. Auch der Dalai Lama selbst hat schliesslich kein Problem mit Widersprüchen. Abgeklärt strahlend, bestreitet er jeden Machtanspruch, besteht jedoch zugleich auf seiner Führungsrolle; unaufhörlich prangert er den verbreiteten Materialismus an, während er von einem Luxushotel zum nächsten jettet. Kurz: Man braucht sich lediglich zu ihm zu bekennen und fühlt sich kosmisch gut, lieb und überlegen; und dabei muss man nichts weiter tun, ausser zu lächeln. Wie er.

Erschienen in der Weltwoche Ausgabe 10/09

No comments:

Post a Comment